Noch vor wenigen Jahren bestimmten Mord und blutige Gewalt den Alltag im damals gefährlichsten Viertel der gefährlichsten Stadt der Welt. Heute ist davon kaum noch was zu sehen – wir besuchen die Comuna 13 in Medellin.
Von einem kleinen Platz mit leuchtend bunt bemalten Treppen und Stützwänden geht der Blick über ein Meer von Dächern, Ziegelwänden und verwinkelten Treppen. Am Horizont stehen Hochhäuser. Ein paar Jungs üben hier Kunststücke mit ihren kleinen Fahrrädern, Männer lehnen am Geländer und lachen über die Zote, die einer reißt. Eine Frau bietet selbst gemachtes Eis am Stil an, grüne Mango mit Salz. Alles wirkt hier oben so entspannt. Dann deutet Lizeth auf eine kahle Stelle am Hang. Dort, nur wenige Meter über den sich steil hinauf ziehenden Häusern, gibt es eine große Bauschutthalde. Eigentlich nichts ungewöhnliches. Diese Deponie aber ist weit grusliger als nur eine kahle Stelle im Wald. Am Rand des Wohnviertels Comuna 13 von Medellin liegen dutzende Menschen unter tausenden Tonnen von Schutt begraben. „Das ist vermutlich das größte Massengrab in Südamerika“, sagt die junge Frau, die eine Gruppe Touristen durch das Viertel führt, in dem sie selbst lebt. Erfahren werde man das wohl nie, fügt sie resigniert dazu. Die Regierung hat erst sehr spät angefangen, zu recherchieren. Der jeden Tag mehr werdende Bauschutt wird die Toten wohl für immer begraben, die seit 2002 dort liegen.
„Was, ihr wollt wirklich in das gefährliche Elendsviertel gehen?“ Solche Fragen stellen einem sogar Kolumbianer. Und einige Freunde in Deutschland verbinden mit Medellin nur Drogen und Kartellchef Pablo Escobar. Das solch ein Bild vorherrscht, wissen auch die Bewohner von Comuna 13. Nicht wenige heißen uns explizit hier willkommen und bitten uns, zu Hause zu berichten, wie es wirklich im Stadtviertel aussieht, das sich rasant verändert hat. Es ist nicht alles eitel Sonnenschein, dass darf man über die unglaubliche Wandlung nicht vergessen. Noch immer versuchen kriminelle Banden, dort wieder einen Fuß auf die Straßen zu bekommen. Lizeth zeigt uns die Veränderungen, erzählt aber auch ganz offen, dass sie schon mehrfach von Jugendlichen aufgefordert wurde, Schutzgeld zu zahlen. Bisher blieb es bei Drohungen: Sie hat nicht gezahlt und ihr ist bis heute nichts passiert. Ihre Nachbarn bestärken sie, nicht zu zahlen. Im Viertel ist man sehr wachsam, was Kriminelle betrifft – und die Polizei ist wieder präsent. Die Menschen wollen nie wieder erleben, was sie bis vor ein paar Jahren durchlitten haben.
Um die blutige Vergangenheit des Viertels und die brutale Militäraktion 2002 einordnen zu können, lässt sich ein kleiner Ausflug in die Geschichte nicht vermeiden. Zehntausende Menschen flohen Ende der 40er und erneut seit Mitte der 60er Jahre vor Bürgerkriegen, unter denen vor allem die Bevölkerung auf dem Land zu leiden hatte. Sie kamen nach Medellin in der Hoffnung auf ein friedlicheres Leben. Das Armenviertel Comuna 13 am westlichen Stadtrand wuchs jeden Tag um neue Hütten und immer höher die steilen Hängen hinauf. Wegen der hohe Arbeitslosigkeit und sozialer Spannungen der eng an eng hausenden Menschen gab es unter den Bewohnern sehr viele Konflikte und Gewalt. Polizei war dort nicht zu finden.
In den 80er Jahren übernahm der berüchtigte Drogenboss Pablo Escobar die Herrschaft im Viertel. Es lag strategisch günstig, um Drogen und Waffen zwischen Kolumbiens zweitgrößter Stadt und den Pazifikhäfen zu schmuggeln. Da sich noch andere Banden in Teilen der Comuna 13 breit machten, gab es unsichtbare Grenzen. Manche Straßen zu überqueren war lebensgefährlich, auch für Kinder auf dem Weg zur Schule, die als mögliche Spione umgebracht wurden. Als Escobar 1993 erschossen und das Kartell zerschlagen wurde, sank die Mordrate und Hoffnung auf ein besseres Leben keimte auf. Aber das Machtvakuum füllten verfeindete linke Guerillagruppen, die die Slumbewohner für ihre Zecke missbrauchten und terrorisierten. Der Staat hatte dort schon lange aufgehört zu existieren. Das wollte der neu gewählte Präsident Uribe ändern und schickte im Oktober 2002 gut 4000 Soldaten und Polizisten in das Viertel, die unterstützt von Kampfhubschraubern Gasse um Gasse nach Guerillas durchkämmten. Da die aber von der „Operation Orion“ erfuhren und flohen, geriet jeder Zivilist ins Gewehrfeuer, der als Untergrundkämpfer oder deren Helfer in Frage kam – und viele verschwanden in der Deponie. Je nach Quelle starben in den zwei Tagen der Operation 13 bis 70 Menschen, hunderte wurden verletzt und bis heute werden 300 Bewohner vermisst! Um die Aktion zu rechtfertigen, zogen die Soldaten den Toten sogar Guerillauniformen an.
Kurz nach diesen „Säuberungen“ wurde ein neuer Bürgermeister in Medellin gewählt, der sich bald der Comuna 13 annahm. Vor allem Dank der neuen lokalen Regierung und privater Initiativen begann sich das Viertel zu wandeln, betont Lizeth und schließt die Regierenden in Bogotá aus. Das Leben in der Comuna 13 veränderte sich danach so grundlegend, dass es an ein Wunder grenzt. In 15 Jahren ist aus dem mörderischen Elendsviertel ein bunter Stadtteil geworden, den sich andere Städte weltweit versuchen, als Vorbild zu nehmen – und in den die Touristen kommen. Auf unserer Tour durch die engen, steilen Gassen erzählt uns die junge Frau ausführlich von der Wandlung. Einer der positiven Faktoren ist der öffentliche Transport. Eine Metrolinie wurde bis in die von 60.000 Menschen bewohnte Comuna 13 gebaut, von der Endstation führt eine Seilbahn in die nördlichen Steilhänge. Wo wir unterwegs sind fahren sechs, durch kleine Plätze verbundene und überdachte Rolltreppen den Hang hinauf. Extrem sauber und gut bewacht lässt sich so auch für ältere Leute ganz leicht der Hang überwinden. Die einst elenden Hütten sind mehrstöckigen Häusern gewichen, deren Wert stetig steigt. Mit dem Anschluss an die Stadt ist das Selbstbewusstsein der Bewohner sichtlich gestiegen.
Ein Stück unterhalb der Bauschuttgrube steht ein großer Schulkomplex, der es laut Lizeth mit vielen Schulen in den reichen Vierteln aufnehmen kann. Gleich daneben thront ein riesiger Komplex aus Verwaltungsbau und einer Bibliothek, in der die Schüler an Computern ihre Hausaufgaben machen. Neben vielen Schulen sind im Viertel 350 Kindergärten und dutzende Sportanlagen gebaut worden. Private Initiativen, oft mit staatlichen Geldern unterstützt, bieten zudem Sprach- und Ausbildungskurse an, um den Jugendlichen eine Alternative zur Kriminalität zu bieten. Lizeth erzählt von Kindern, die sie bei ihrer Arbeit mit den Besuchern getroffen hat. Die lernen jetzt Sprachen, um später auch Fremde durch die Comuna zu führen.
Dann gibt es da noch den Breakdance. Mehrere Gruppen Jugendlicher führen auf den Straßen ein erstaunlich artistisches Repertoire vor. In die Spendenbox passt fast kein Geldschein mehr rein, als wir uns die „Black and White C 13“ ansehen. Es gibt also Vorbilder, dass man mit etwas Enthusiasmus auch gut ohne Gewalt leben kann. Nicht zu unterschätzen ist auch der Einfluss der Graffiti- und Streetart-Kunst in der Comuna 13, sagt Lizeth mit Nachdruck. Und sie hat eine unglaubliche Geschichte dazu: Nach 2002 hatte ein Mann nichts anderes im Sinn, als seine getöteten Eltern zu rächen. Ein Freund nahm ihn und ein paar Sprayflaschen eines Tages mit zu kahlen Wänden. All seinen Hass und seine Wut packte der Mann in ein Bild. Er ist bis heute ein geachteter Graffiti-Künstler, der das Aussehen des Viertels mit prägt. An vielen Wänden finden sich mehr oder weniger deutliche Hinweise auf die Vergangenheit des Viertels – so sind die Porträts von Gewaltopfern dort verewigt, auf anderen Bildern prangen die Worte für Frieden und für Liebe. Hausbesitzer sind stolz auf die Bilder an ihren Wänden. Die Kunstwerke machen das Viertel bunter und damit attraktiver, bieten zudem die Möglichkeit, sich mit der grausamen Vergangenheit auseinander zu setzen oder gar zu versöhnen. Sie spiegeln auch das neue Lebensgefühl wieder.
Ein paar Worte will ich noch über das Gefühl im restlichen Medellin verlieren, weil wir von der Stadt überrascht sind. Sich mit öffentlichen Transportmitteln zu bewegen, zumindest entlang der Metro (die übrigens ein paar Meter überirdisch auf Stelzen verkehrt) oder der Seilbahnen, ist sehr einfach und preiswert und verschafft den Neulingen einen ersten Überblick über die Stadt. In den Metros und den Gondeln ist es übrigens extrem sauber, niemand trinkt oder isst drinnen etwas. Genauso verpönt ist es in Medellin, nach der Metro zu rennen – man geht gefälligst gemütlich weiter und wartet auf die nächste. Das drückt schon ein Stück des Lebensgefühls der 2,5 Millionen Menschen in der Stadt aus: Gemächlichkeit. Schnell gehende Businessleute fallen hier richtig auf. Überall stehen oder sitzen die Leute zusammen, reden, lachen, trinken einen Tinto (starken schwarzen Kaffee) von einem der vielen Straßenhändler mit ihren zig Thermoskannen. Beim Schlendern durch die Straßen haben wir manchmal das Gefühl, in einem zu großen Dorf zu sein. Medellin ist die einzige Großstadt, in der wir gegrüßt und gefragt werden, wie es uns geht und hier gefällt. Es gefällt uns hier sehr. Aber nach drei Tagen geht es trotzdem weiter, mitten rein in die kolumbianische Kaffeeregion.
Ein Kommentar
Sehr interessanter Bericht.