Die Chachapoya gehören zu den mysteriösesten Kulturen Südamerikas. Keiner weiß, woher sie kamen und wie sie den Inka so lange Widerstand leisten konnten.
Es knallt mehrmals hintereinander. Sind das Schüsse? Kurz vor 5 Uhr morgens schrecke ich aus dem Schlaf. Unser Hostel liegt in Chachapoyas direkt am Hauptplatz, auf dem es immer wieder mächtig rumst. Ein bisschen mulmig ist mir. Ich schleiche die paar Meter zu einem Balkon, von dem aus ich etliche Polizeiautos mit lauten Sirenen um den Platz fahren sehe. Sind die von den Inka gefürchteten Nebelkrieger zurück, die bis kurz nach Ankunft der Spanier hier lebten – die sind allerdings seit etwa 1560 ganz verschwunden. Oder brechen die politischen Unruhen in Nordperu wieder aus? Aber die vielen Leute auf dem Hauptplatz wirken sehr entspannt – und die vermeintlichen Schüsse sind Raketen, die laut in der Luft knallen.
Ich hatte schon vor, mich trotz der merkwürdigen Situation wieder hinzulegen, aber da kommt mir Jeanette schon entgegen. Sie will rausgehen und nachsehen, was da los ist. Auf dem Platz kommen uns im langsam heller werdenden Licht Trupps von Menschen in traditioneller Kleidung und mit Fackeln und auch Schnapsflaschen entgegen. Das sind definitiv keine Unruhen. Irgendwann erklärt uns jemand, dass der frühmorgendliche Auflauf der Beginn einer Festwoche ist, beim sich die Stadtteile gegenseitig feiern. Bis zum Frühstück um 7 haben wir Dutzende Fotos gemacht und ich „durfte“ mit ein paar der Männer drei Schnäpse auf Ex trinken….
Nach dem Frühstück sitzen wir mit vier anderen Besuchern in einem Touristenbus, der uns nach Kuelap bringt, wo man mit der einzigen Seilbahn Perus zu einer mysteriösen, von den Chachapoya errichteten Stadt ganz oben auf einem Berggipfel fahren kann. Den Namen hat die Kultur von den Inka bekommen, die lange vergeblich versucht haben, die Nebelkrieger oder Wolkenmenschen – das bedeutet Chachapoya – zu unterwerfen. Übrigens hat sich die Stadt Chachapoyas nach dem Volk benannt. Was die Wolkenmenschen so besonders macht, sind sehr viele ungeklärte Fragen, die Platz für reichlich Spekulationen lassen.
Die riesige Mauer, an der wir jetzt hoch sehen, ist mehrere hundert Meter lang und bis zu 21 Meter hoch. Ein enger Durchgang führt steil nach oben auf die erste von drei Ebenen, auf denen die Grundrisse oder Ruinen von mehr als 300 meist Wohngebäuden zu sehen sind. Was dieser befestigte Ort in gut 3.000 Meter Höhe auf dem felsigen Berggipfel für eine Funktion hatte, ist auch ungeklärt. Eine Wehranlage scheint es nicht gewesen zu sein, vielleicht war es dauerhaft bewohnt oder doch ein Zufluchtsort für die Bewohner der umliegenden Dörfer? Unser Guide ist sich sicher, dass es ein Ort zum Frieden stiften war, den Vertreter der verschiedenen Gruppen der oft gegeneinander kämpfenden Chachapoya bewohnten, um mit- statt gegeneinander zu leben. Fest steht, dass auf der größten, der untersten Ebene, das normale Volk lebte, auf der zweiten die militärischen Führer und ganz ober der Adel. Ungewöhnlich in Südamerika ist auch die Bauweise: Die Chachapoya errichteten nur Rundhäuser. Das erklären Experten mit der Stabilität bei Erdbeben.
Nach den Aufzeichnungen der ersten Spanier, die in Nordperus Berge kamen, passen die Chachapoya auch nicht so ganz ins Bild der restlichen Andenbewohner. Demnach waren sie groß, hellhäutig und hatten grüne Augen. In Verbindung mit Schmuckelementen an ihren Häusern, die keltischen Symbolen stark ähneln, verleitet manchen Experten zur Idee, dass die Wikinger nicht nur in Nord- sondern auch in Südamerika gelandet und geblieben sind. Auch die Theorie, dass Menschen aus Indonesien über die Osterinseln kamen, gilt als wenig glaubhaft – obwohl die Form der Köpfe ihrer Sarkophage (auf die ich später noch komme) stark an welche in Indonesien und die riesigen Moai auf den Osterinseln erinnern. Möglicherweise hat die Kultur, die von etwa 900 nach Christus bis etwa 1500 auf den Andengipfeln existierte, ihren Ursprung im Amazonasbecken. Die Frage des Woher erhitzt jedenfalls die Gemüter der Archäologen, vermutlich noch viele Jahre..
Zumindest scheinen die Chachapoya ihre Kultur hoch entwickelt zu haben. Ein auffälliges Bauwerk am Rand der unteren Ebene das das beweisen soll, können wir leider nur aus der Ferne bewundern, weil uns ein Verbotsschild und Stricke den Weg versperren. Nach dem Einsturz einiger der Festungsmauern vor zwei Jahren war die gesamte Anlage lange gesperrt und wird jetzt nach und nach wieder für Besucher freigegeben. Wir dürfen wenigstens durch die Hälfte der untersten Ebene stromern, wenn auch nicht die, wo das „Tintenfass“ steht. „El Tintero“ ist eines der Mysterien Kuelaps, da bis heute niemand sagen kann, wofür es gedient hat. Das Gebäude heißt so, weil es Ähnlichkeit mit einem Tintenfass hat, das sich von oben nach unten verjüngt. Im Inneren des „Tintero“ lagen Knochen von Raubtieren. Es gibt zahlreiche Theorien zur Nutzung, die von einem Gefängnis bis zu einem Observatorium mit Opferstelle reichen.
Hoch entwickelt war auch ihre Kriegskunst. Die Inka-Soldaten schafften es nicht, die groß gewachsenen, kahl rasierten und wild bemalten Krieger aus den Dörfern in den Wolken zu besiegen. So wendeten die Inka diffizilere Methoden an. Erst wenige Jahre vor Ankunft der Spanier schafften sie es unter anderem durch Straßenbau, Handel, Spracheinfluss und Entsendung von Experten zum Beispiel für die Weiterentwicklung der Töpferei, die Chachapoya zu beeinflussen und schließlich zu unterwerfen. Das Ende der Kultur leiteten aber die Spanier ein, mit denen sich die Chachapoya gegen die Inka verbündeten. Von den Europäern eingeschleppte Krankheiten löschten in 20 Jahren mehr als 90 Prozent der Wolkenmenschen aus. Jetzt finden sich nur noch einzelne Worte ihrer vergessenen Sprache – und ihre ebenfalls mysteriösen Totenkulte. Von letzterem bekommen wir in den folgenden Tagen noch einiges Beeindruckendes zu Gesicht.
Ein mit 14 Reisenden fast voll besetzter Touristen-Kleinbus (nach Kuelap waren wir nur zu sechst) schüttelt uns eine unasphaltierte Straße entlang bis ins Dorf Cruz Pata. Was wir da wollen? Zwei Kilometer steil bergab wandern, um uns Karajia anzusehen. In einer steilen, unzugänglichen Felswand unterhalb des Dorfes stehen überlebensgroße Figuren in einer Felsennische. Die aus Lehm gebauten Figuren sind innen hohl und verbergen jeweils eine in Hockstellung eng verschnürte Mumie. Auf einer thront noch ein Schädel – ein neues Feld für Spekulationen über die Chachapoya. Eine weit verbreitete Meinung sieht die Schädel als Kriegstrophäen und vermutet, dass die Krieger Kopfjäger waren. Von den einstmals Dutzenden dieser bunt bemalten Sarkophage mit ihren lang gezogenen Gesichtern in überall verteilten Felsnischen haben hier nur sechs die Zeiten, Wetter und Grabräuber überlebt. An anderen Orten gibt es noch mehr und wieder anders gestaltete Lehmsagoharge. Sie sind so unzugänglich im Fels, dass wir sie nur von weit unten sehen können. Allein die Vorstellung, welchen Aufwand diese Menschen betrieben haben, um ihre Toten erst monatelang mit Pflanzen zu mumifizieren und dann so unzugänglich zu bestatten, lässt einen beeindruckt, aber auch ratlos zurück.
In einer anderen Ecke der Region um die Stadt Chachapoyas geht das Staunen über den Totenkult weiter. In Revash besichtigen wir Mausoleen. Die sind nicht etwa an einem Weg entlang errichtet worden. Auch diese gemauerten Gebäude kleben in unzugänglichen Nischen in einer senkrechten Felswand. In jedem Mausoleum sind etliche Mumien beigesetzt, wie in den Sarkophagen gehörten sie zu Lebzeiten der Elite an. Unser kundiger Führer kann uns anhand der Form der kleinen Fenster in den Mauern erklären, wer in luftiger Höhe sein Leben nach dem Tod begonnen hat: Frauen, Männer oder astronomiekundige Schamanen. In einem den Chachapoya gewidmeten Museum in Leymebamba erfahren wir, dass die Mumien, denen zuvor die Eingeweide entfernt wurden, mit den Geräten und Dingen gefüllt wurden, die sie zur Ausübung ihrer Aufgabe auf Erden brauchen, um ihr auch im nächsten Leben nachgehen zu können. So fanden Wissenschaftler in einer männlichen Mumie Fangnetze, Steinschleudern, Federn und Vogelköpfe – der Mann war zu Lebzeiten ein Vogelfänger, was offenbar zu den wichtigen Berufen zählte.
Die letzte und aufwendigste Begegnung mit dem enormen Totenkult der Chachapoya haben wir von Leymebamba aus. Unser Guide in Kuelap hat uns den Tipp gegeben, in Leymebamba eine Wandertour zum „Haus des Teufels“ zu machen, dem Wasi Diablo, und einen gewissen Sinecio Garro als Guide anzufragen. Da der Mann auch ein Hostel betreibt, haben wir uns gleich dort eingemietet. Sinecio, ein kleiner, schlanker und sichtlich zäher Peruaner Ende 50 hat uns sogar vom Hauptplatz abgeholt. Wir sind schnell überein gekommen, am nächsten Morgen um 7 zu starten. Da wir das erste Stück fahren müssen, sind wir zu seinem Kumpel gegangen, der einen kleinen Suzuki hat und haben ihn sozusagen als Fahrer gebucht. Auf den Mann ist verlass: 5 vor 7 hupt er vor der Tür. Nach einer Stunde heftiger Schüttelpiste durch den Wald, wandern wir auf 2.900 Meter los, also fast auf Höhe des Zugspitzengipfels.
Nach drei Stunden Anstieg über einen meist verwilderten alten Inka-Pfad, den seit Ausbruch der Pandemie kaum jemand gegangen ist, erreichen wir in gut 3.600 Metern das Teufelshaus. Warum diese Felswand so heißt, erschließt sich uns nicht. Aber der Anblick ist beeindruckend. Von direkt gegenüber sehen wir immer mehr Bauten, versteckt in den Felsnischen. Allein in dieser Felswand sind knapp 80 unzugängliche Mausoleen-Häuser oder – wieder was Neues für uns – zugemauerte Höhlen zu finden. Zu vielen kann uns Sinecio was sagen, ob sie noch unberührt sind, wer dort beigesetzt wurde, dass das Zickzackmuster an einigen Bauten herrschaftliche Tote bedeutet und das das einfache Volk am Fuß der Felsen unter Steinplatten beerdigt wurden. Auf dem langen Abstieg durch die herrlich duftenden Kräuter-Gebüsche lassen uns die Gedanken an die, wie Sinecio sagt, verrückten Chachapoya nicht los, wenn es um ihren Totenkult geht. Das waren wirklich ungewöhnliche und mysteriöse Menschen. Da haben Archäologen sicher noch Jahrzehnte zu tun, ihre Geheimnisse zu lüften, falls das überhaupt möglich ist. Ein bisschen Unklarheit kann manchmal aber spannender sein als des Rätsels Lösung.
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