Pech und Glück können in der Metro der mexikanischen Hauptstadt dicht beieinander liegen. Ein unerwarteter Erlebnisbericht:

Geschichten vom Gedränge in der Metro von Mexiko Stadt gibt es viele. Wir sind einige Male gefahren, aber außerhalb der üblen Stoßzeiten. Und ebenso viele Geschichten gibt es von Taschendieben. Die hatten uns bisher auf Reisen in Ruhe gelassen. Das hat sich aber jetzt geändert.

Das Abenteuer lauert manchmal im ungünstigsten Augenblick. Nach einem sehr schönen und spannenden Tag im nördlichen Mexiko Stadt sind wir mit der U-Bahn zurück ins Zentrum gefahren. In der Station Hildago müssen wir umsteigen. Auf die Bahn warten schon viele Leute. Da die Türen nur für wenige Sekunden zum Aus- und Zusteigen öffnen, ist das Geschiebe entsprechend. Ich bin gerade hinter den Türen, als ich von hinten einen kräftigen Stoß bekomme. Meine Vermutung, jemand will sich noch schnell mit rein drängeln, stellt sich schnell als Trugschluss heraus: Plötzlich spüre ich eine Hand an meinem Bein, dummerweise genau da, wo das Portmonee in der Hose steckt. Ich kann nur noch den Kopf kurz aus den sich schließenden Türen strecken, aber nicht mehr raus springen, um dem Dieb nachzurennen. Ich sehe einen Typen, der gerade losrennt und rufe verärgert laut „EHHH“, Dann fährt die Bahn los.

Nach kurzem Fluchen und mitleidigen Blicken der eng stehenden Mitreisenden überlegen wir auf der Fahrt schon, was uns der Dieb da eingebrockt hat für die weitere Reise. Das größte Problem: Jeanettes Visa-Karte ist nun weg. Auf ihrem Konto wartet der größere Teil unseres Budgets darauf, ausgegeben zu werden. Irgendwie sollten wir wohl die Polizei einschalten. Da in den Metrostationen die Präsenz von Schussweste tragenden Uniformierten beträchtlich ist, spreche ich zwei Polizistinnen an, die am Bahnsteig stehen. Damit nimmt eine so nicht erwartete Kette von Ereignissen ihren Lauf, die ganze fünf Stunden unserer eh viel zu kurzen Reisezeit 🙂 verschlingt.

Aber der Reihe nach. Die beiden Frauen können kein Englisch, verstehen aber offenbar, was ich pantomimisch vorführe – vermutlich spricht auch mein Gesichtsausdruck Bände. Sie holen jedenfalls über Funk gleich zwei Kollegen dazu, die nach 20 Sekunden da sind. Auch bei Ihnen komme ich ohne Spanisch nicht weiter. Der, der offenbar der Chef der Truppe ist, kann aber auch die Zeichensprache. Er will, dass wir mit ihm zurück zur Station Hidalgo fahren und versuchen, den Dieb zu sehen, also irgendwie zu finden. Die Aussicht, auf den vollen Bahnsteigen zweier Linien rumzulaufen und einen etwa 25-Jährigen aufzuspüren, der dem Bild entspricht, dass ich einen Wimpernschlag lang gesehen haben, lässt meine Hoffnung nicht gerade steigen. Aber einen Versuch ist es ja wert.

Um möglichen Schaden durch die geklaute Geldkarte abzuwenden, macht sich Jeanette auf ins Hostel, um sie mit einem Anruf bei der Bank in Berlin sperren zu lassen. Ich dagegen fahre umringt von allen vier Polizisten die vier Stationen zurück. Zumindest fühle ich mich jetzt ganz sicher. Im Zug spricht mich plötzlich eine ältere Frau auf Englisch an. Sie hat am Bahnsteig mitbekommen, dass es zwischen uns fünf Kommunikationsprobleme gibt. Sie sagt mir, das ich wohl in den Videoaufzeichnungen in der Station den Dieb identifizieren soll. Was mir passiert ist, macht sie sichtlich beschämt. „Immerhin ist es mein Land, wo das passiert ist“, sagt sie. Sie wurde auch schon bestohlen, allerdings bei einer Italienreise in Rom. Dann sind wir da und steigen aus. Am Zug warten schon vier weitere Uniformierte, die dort Dienst tun und mich wohl zur Videozentrale bringen sollen. Aber plötzlich nimmt die Geschichte eine komplett andere Wendung.

Ein großer Mexikaner, unter dessen knallgelbem T-Shirt sich ein beachtlicher Bauch wölbt, kommt schnurstracks auf uns zu und ruft mir englische Brocken zu: „I see it, I catcht him!“. Es braucht etliche Wiederholungen seinerseits bis ich ahne, dass er den Diebstahl gesehen und den flüchtenden jungen Mann gefasst hat. Den verdutzten Polizisten zeigt er seine Dienstmarke mit einem silbernen Stern. Er ist auch Polizist! Nach ein paar Minuten Beratung mit den Uniformierten nehmen sie mich wieder in die Mitte und zum Bahnsteig in entgegengesetzter Richtung. Was das zu bedeuten hat, verstehe ich nicht. Ich meine irgendwas von einer Polizeistation verstanden zu haben. Und der Zivilpolizist, der sich als Pablo Martinéz vorstellt, setzt mir mit ein paar englischen Wörtern und gestikulierenden Händen auseinander, dass der zum Ausgang rennende Dieb noch in der Station gefasst wurde. Ich beschreibe ihn das erste von noch etlichen folgenden Malen. Er nickt zu meinen mit Händen unterstützten Worten, einige fallen mir sogar auf Spanisch ein. Vor allem das Detail, dass er einen Mantel oder so was über dem Arm trug, begeistert ihn.

Dann steigen wir sechs aus der Metro aus und gehen gleich nach dem Stationsausgang in ein Gebäude, dass innen wie eine Baracke wirkt: vom gefliesten Flur gehen ein Dutzend Türen ab. Im Gang stehen zwei Schreibtische mit Rechnern darauf und etliche Leute wuseln umher. Dort hat die „Policía de Investigacion“ ihren Sitz und – wie ich später noch erfahre – ein Jurist des Generalstaatsanwalts. Als erstes hält mir Pablo triumphierend eine Plastiktüte vors Gesicht, in der ich meine Geldbörse entdecke. Mir fällt mindestens ein Stein vom Herzen. Ob noch alles drin ist, sehe ich aber nicht. Andere Männer, einige von ihnen mit Dienstmarke um den Hals, lassen sich die Geschichte des Diebstahl erneut erzählen, wieder muss ich Hände und Füße benutzen. Dann nimmt die Bürokratie ihren laangen Lauf. Zum Teil zu fünft über Stapel von frisch ausgedruckten Formularen gebeugt, diskutieren sie, was wo hin geschrieben werden soll, welche von Dutzenden Kästchen angekreuzt werden sollen. Da ich in Ruhe gelassen werde, kann ich zuhören und versuche, spanische Wörter aufzuschnappen. Pablo tippt mich an, zeigt in den Gang und sagt „Thats him!“ – der Dieb ist also auch hier und wird gerade in ein anderes Zimmer gebracht. Der Kampf der Polizisten gegen die Formulare geht unterdessen weiter. Dann gesellt sich eine zierliche junge Frau dazu. Als sie sich über die Zettel beugt, zeichnet sich unter ihrem Pullover der Griff einer Pistole ab. Da die Männer unbewaffnet sind, ist das vielleicht ihre Chefin.

Im Laufe einer Stunde schreibe ich meinen Namen in die Notizblocks von drei verschiedenen Leuten, die mich jeweils nochmal entweder nach dem Ablauf der Klauerei oder nach dem Dieb fragen – nach wie vor mehr in Gesten als mit Worten. Eine Sprache nicht zu sprechen, kann ein ganz schönes Hindernis in solchen Fällen sein. Dann werde ich zum Telefonhörer gerufen und eine Frau lässt sich die Geschichte auf Englisch wiederholen und stellt solche Fragen wie: wie viel Geld war in der Börse und nach deren Marke. Wenn ich das so genau wüsste. Eine Weile sitze ich wieder auf einer Blechbank und sehen dem Kampf gegen die Formulare zu – bin ich etwa der Erste, der beklaut wurde und wegen dem diese Zettel ausgefüllt werden müssen?

Nach einer ganzen Weile – ohne Uhr ist mir das Zeitgefühl abhanden gekommen – werde ich in einen anderen Raum gerufen. Eine ältere Frau mit ausladendem Körper und verkniffenem Gesicht stellt sich als Dolmetscherin Gabriela vor. Na endlich! Aber was sie mich fragt, ist erneut der Ablauf der Geschichte, was ich vom Dieb gesehen habe und wie viel Geld in der Börse waren. Das übersetzt sie Wort für Wort einer anderen Frau, die es trotz ihrer gigantischen knallroten Fingernägel hurtig mit zwei Fingern in einen Rechner hämmert. Sie stellt immer wieder Zwischenfragen, die ich übersetzt bekomme und brav wiederholt beantworte. Die Dolmetscherin erklärt mir, dass der Jurist all diese Details wissen will wie: ob ich den Kopf beim Entdecken des Diebs nach rechts oder links gedreht habe oder über welchem Arm er den Mantel hatte. Dann muss ich das Protokoll, dass ich wegen Spanisch nicht verstehe, auf jeder Seite unterschreiben und meinen Daumenabdruck mit Tinte hinterlassen. Das Stempelkissen steht auf einem der Schreibtische im Flur. Auf dem anderen liegen mein Geld, mein Ausweis und die Geldkarte fein ausgebreitet und werden abfotografiert.

Mit meiner Vermutung, dass ich jetzt alles in die Hand bekomme und gehen kann, liege ich aber falsch. Erst muss ich einer anderen Frau am Rechner noch Mailadresse, Geburtstag und -ort aufschreiben. Also taucht von nun an das thüringische Städtchen Bleicherode in irgendwelchen Dateien in Mexiko City auf. Dann, nach knapp fünf (!) Stunden, kann ich endlich los zurück ins Hostel, wo sich Jeanette schon große Sorgen macht. Sie hatte ja nicht mal eine Idee, wo mich dich Stationspolizisten hingebracht haben. Bei Bier und Mesqual auf der Dachterrasse des Hostels lassen wir diesen unerwartet endenden Tag ausklingen. Wir sind froh, so unheimlich Glück zu haben, dass der Dieb gefasst wurde. Das passiert einmal in einer Million Fällen, hat die staatliche Übersetzerin gesagt.

Am nächsten Morgen muss Jeanette als Zeugin, die nichts gesehen hat, mit zur Wache, wo noch einmal ein Dutzend Seiten ausgefüllt und unterschrieben werden. Nach noch einmal eineinhalb Stunden habe ich endlich mein Portmonee mit allem Geld und Zeugs zurück und wir können zurück ins Leben als Touristen in Mexiko.

Das hat nicht nur unser Glücks-Reise-Buddha gut Lachen. Danke Sybille.

9 Kommentare

  1. Puh, ganz viel Glück gehabt, ich wünsche euch solche Erlebnisse nicht mehr, dafür viele andere bunte und spannende Eindrücke, liebe Grüße Steffi

  2. Na bei den Mexikanern können die deutschen Bürokraten noch was lernen 🙂
    Tolles Erlebnis, und noch dazu völlig kostenfrei. Wenns immer so gut ausgeht wünschen wir euch ab und an wieder sowas – vorausgesetzt dein Nervenkostüm hält das aus.
    Wir haben uns jedenfalls schlapp gelacht und konnten uns richtig gut vorstellen, wie du als Nervenbündel von 8 Polizisten eskortiert wirst. Man wächst mit seinen Erlebnissen! Viele gute Nerven und weitere phantastische Erlebnisse

    • Vielen Dank für euer Mitgefühl. Wir haben uns beim Lesen eures Kommentars sehr amüsiert. Und Jeanette hat mich auch eher als Nervenbündel gesehen … aber hab ich och gut gemeistert, oder? ;-))) Die Definition, dass es jetzt eine Reise und kein Tourismus mehr ist, teile ich auch. Solche Erlebnisse sind die, die solch eine Tour/ein Abenteuer ausmachen.
      Liebe Grüße aus der Ferne, auch von Jeanette. /jens

  3. Ich wünsche euch nur noch interessante Erlebnisse ohne Schreck ! Haltet Augen und Ohren offen und passt gut auf euch aus…!
    Liebe Grüße, Heidi

  4. Oh, oh, da habt ihr ja was erlebt! Wenn einer eine Reise macht, dann kanner was erzählen (sicher euren Enkeln noch….;-). Wir wünschen euch, aus dem beschaulichen Lipprechterode, trotzdem noch viel Spaß.

  5. Viele Grüße aus Bleicherode, das ja jetzt auch in Mexico-City bekannt ist, von Heike und Frank. Glücklicherweise ist diese Geschichte gut für euch ausgegangen.
    Wir wünschen euch noch ganz viel Spaß auf eurer Reise.

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